Köln – ein paar Jahre

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Rievkooche, Köln 2004
©Frank Dömer

Photographien von Frank Dömer
zwischen 2002 und 2011

Gabriele Conrath-Scholl, 2011

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Zuweilen verschlägt uns das Leben an Orte, die wir uns nicht aussuchen, die aber unsere Aufmerksamkeit und Neugier wecken und die wir Stück für Stück zu entdecken lernen – oft eine entscheidende Erfahrung, die Sensibilität und Offenheit erfordert, aber meist nur mit begrenzt nachhaltiger Wirkung einhergeht. Denn in der Regel nehmen wir, je mehr wir uns an eine Umgebung gewöhnt haben, weniger Reize aus ihr auf, befassen uns weniger mit ihr, und ihre Umrisse und Details scheinen mehr und mehr zu verblassen – ein Effekt, der zwar alltägliche Abläufe erleichtert, doch für Vieles vor unserer Tür blind macht. Die Veränderung des eigenen Umfelds nehmen wir häufig erst dann wahr, wenn sie sprunghaft erfolgt und unmittelbar – sei es positiv oder negativ – die eigenen Lebenskreise betrifft.

Eine Stadt, in die wir ziehen, um dort zu leben und zu arbeiten, erleben wir gänzlich anders als eine Stadt, die wir an einem Wochenende besuchen und mithilfe eines Reiseführers erkunden. Die gesuchte Perspektive, das eigene Interesse am Ort, ist gänzlich anders gelenkt und so werden mit unterschiedlicher Voreinstellung auch verschiedene Aspekte wahrgenommen. Der- oder diejenige, die sich in einer Stadtwohnung einzurichten sucht, betrachtet etwa die neue Nachbarschaft, die umliegenden Häuser, mutmaßt über deren Bewohner, hält nach Geschäften oder einem Kiosk Ausschau, erkundigt sich nach der nächsten Schule oder dem Spielplatz für die Kinder, nach Fahrradwegen oder der Bushaltestelle zur Universität, zum Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Unendlich zahlreich sind die Ansprüche, die sich mit dem Leben in der Stadt verbinden und in einen Abgleich mit den vorhandenen Möglichkeiten gebracht werden müssen. Schließlich sollte die Gesamtatmosphäre stimmen, und dies ist durchaus eine subjektive und nur bedingt steuerbare Komponente.

Der Wochenendtourist schaut anders. Ob aus eigenem Antrieb oder inzwischen durch moderne Reisegewohnheiten trainiert, sucht er in erster Linie herausragende Sehenswürdigkeiten, eindrucksvolle Panoramen, kulturelle Einrichtungen wie Museen oder Theater, Restaurants oder Einkaufsmöglichkeiten und geht nur ausnahmsweise durch Wohn- oder Gewerbegebiete, die am Rande des Zentrums den Alltag und das Gesicht der Ortschaft mitbestimmen. Ist die Stadt Köln das Reiseziel, so gehören der Dom, die romanischen Kirchen, die Glockengasse, die Rheinpromenade, die Hohenzollernbrücke, die Altstadt und die moderne Hafenarchitektur zu den wichtigen Koordinaten und damit auch zu den kategorischen Photomotiven.

 

Frank Dömer kennt die „Hot Spots“, die Köln als touristische Metropole ausweisen. Aber nicht zuletzt weil er bereits seit 1995 in Köln wohnt und arbeitet, zeigt er sich diesen Attraktionen gegenüber gelassen. Sie kommen in seinen Photographien nur am Rande vor, allenfalls stellt er sie mit jenen Ansichten der Stadt in Beziehung, die weder allgemein bekannt sind, noch idealen Urlaubsvorstellungen eines Reiseprospekts entsprechen, deshalb aber nicht minder beachtenswert sind. Hierzu zählen die etwas außerhalb der Stadt gelegenen Gegenden mit ihren Zufahrtsstraßen und freien, weiten Terrains wie auch vermeintlich unspektakuläre Stadtteilregionen mit ihren Wohnhäusern, Kleinbetrieben, Kneipen, Hinterhöfen oder auch kargen Grünflächen – Stellen, die bei aller Banalität befremdend wirken. Im Wissen um die ausschnitthafte Qualität seines photographischen Bildes blickt er weniger auf die Abbildung einer Gesamtkulisse, sondern konzentriert sich auf die punktuelle Ansicht einzelner Momente in ihrem jeweiligen Zusammenspiel. Betrachtet er beispielsweise Orte, wie das Gelände am Hauptbahnhof oder am Flughafen, die gegenüber den mittelalterlichen Stadttoren Kölns sozusagen die modernen Grenztore für die Besucher aus aller Welt repräsentieren, so macht er auf eine eigenartig komplex funktionale Anonymität aufmerksam, die weder einem individuellen Stadtbild noch einer einladenden Atmosphäre entspricht. Es sind detailgenau notierte Ortsbeschreibungen, die von planvoll notwendigen Strukturen und erreichtem Wohlstand erzählen, ebenso aber das Zufällige, Wahllose und Diskrepante hervorheben – eine Mischung, die bei aller photographischen Wirklichkeitstreue punktuell surreal und collagiert anmutet.

Als Maler an der Frankfurter Städelschule bei Thomas Bayrle, Raimer Jochims und Per Kirkeby ausgebildet, befasst sich Frank Dömer seit den frühen 1980er-Jahren auch mit der Photographie. Vorwiegend verwendet er sie zur Aufnahme von Landschafts- und Architekturbildern, so in seiner unmittelbaren Umgebung wie auch auf den wiederholten Reisen in die Schweiz oder die USA. Er erlebt das urbane Umfeld weniger von außen als von innen, erkundet es mit der Kamera als Lebens- und Resonanzraum seines eigenen Tuns beziehungsweise all jener, die an einem Ort wirken oder wirkten und mehr oder weniger sichtbare Spuren hinterlassen haben. Insofern stellt Frank Dömer in seinen über mehrere Jahre in Köln entstandenen Photographien Stadtansichten vor, die zahlreiche unterschiedliche Facetten vereinen und ein Terrain zeigen, das von vielen Generationen bearbeitet, geordnet, verbraucht, missachtet, verschönert, genossen und erneuert wird – also ein Kaleidoskop vielschichtig ineinandergreifender Vorgänge, die die verschiedenen Zeitdimensionen untrennbar verbinden. Sichtbar sind auch – so selbstverständlich, dass es fast unbemerkt bleibt – grundlegende klimatische und geologische Gegebenheiten: ein meist wechselhaft, graues Wetter und triviales Flachland, wobei die Bodenbeschaffenheit durch die sich weit erstreckende Asphaltierung und Bebauung kaum auszumachen ist.

Laufen wir mit Frank Dömer durch Köln, so begegnen wir einerseits einer plausibel gewachsenen Welt, andererseits einem eigenwillig inhomogenen Stadtgefüge. Dömer bezieht zwar die historisch wertvolle Substanz des Mittelalters ein, führt uns vor allem aber auch einen Stilmix vor Augen, der im Laufe der Entwicklung entstanden ist, beeinflusst durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau, provisorische Lösungen und den modernen bis in die Gegenwart reichenden Vorstellungen von Architektur, die mit neuen Bauformen und -stoffen experimentieren und weniger auf Beständigkeit denn auf kurzfristig durchführbare Erneuerung und stetes wirtschaftliches Wachstum setzen – äußerlich effektvoll, sogar häufig ihre Nutzungsart verbergend. Dazu trifft man wiederholt auf bunte Werbe- oder Verkehrsschilder, auf zwei- oder mehrspurige Straßen, auf Brücken, Bahngleise und höhergelegte Trassen, die ein schnelles Fortkommen für Personen und Güter gewähren. So spiegeln und verlinken Frank Dömers Photographien indirekt auch viele neben- und gegeneinandergerichtete Bedürfnisse ebenso wie Werte, Wünsche, Erfolge, Unachtsamkeiten, Fehlentscheidungen, aber auch wieder neu erwachsene Initiativen.

 

In diesem durchaus komplexen Gesamtgeschehen findet Frank Dömer eine eigene Ordnung. Durch seinen analysierenden Blick, sein Gespür für atmosphärische Konstellationen und sein Interesse daran, welche Kräfte im Stadtbild oder in der Peripherie sichtbar, absichtlich oder unabsichtlich mitwirken, scheint sich geradezu eine Vielzahl von „Bühnenbildern“ vor seiner Kamera aufzutun. Mitgewirkt am Erscheinungsbild der Stadt haben – neben Landschafts- und Stadtplanern – die Bau- und Automobilindustrie, Verkehrsbetriebe, Material- und Baustoffhersteller, Designer aller Ausrichtungen, ob zuständig für Werbung, öffentliche Mülleimer und Parkbänke, für Einrichtungsgegenstände und Sonnenschirme im Gastronomiebereich oder für Eingangstüren und Vorhänge von Wohnungen. Schließlich spielen die Einwohner aller Altersstufen, sozialer und kultureller Kontexte eine Rolle, eingeschlossen jene Menschen, die sich nur temporär in der Stadt aufhalten. Dennoch werden sie von Dömer nicht als Persönlichkeiten portraitiert, sondern allgemein als situationsbezogene Figuren aufgenommen, beispielhaft für ein Treiben, das auf den Straßen und Plätzen anzutreffen ist und einen Eindruck von der lokalen Lebensart spiegelt. Vor allem ist es all jenes, das die Menschen in ihrer Stadt hinterlassen, das er in seinen still konzentrierten Bildern aufnimmt, blickt man etwa auf abgestellte Fahrräder – oft gehäuft als wirre, fast avantgardistisch anmutende skulpturale Ballungen im Bild – oder auf Graffiti an einem öffentlichen Aufzug, der mit seiner Umbauung auf den ersten Blick an eine Bushaltestelle erinnert und spontan die Frage aufwirft, wohin der Weg nach unten wohl führen wird. Dömer lenkt den Blick auf Mauern oder Hausfronten, Straßenmarkierungen oder Schilder, entdeckt auf Laternenmasten kleine Aufkleber oder an den Fenstern unterschiedlich hoch gezogene Rollos, Wäschestücke oder am Boden liegen gelassene Verpackungen. Manchmal begegnet er auf seinen Streifzügen auch rätselhaft skurrilen Dingen, so einem am Bürgersteig abgestellten Fernseher in knallrosa Plüschverkleidung – ein wenig Mitleid könnte fast aufkommen.

Eingebunden ist diese abwechslungsreiche Motivwelt in empfindsam ausbalancierten Kompositionen, die stürzende Linien oder spektakuläre Perspektiven meiden. Ein Teil der Bilder ist von erhöhten Standorten aufgenommen, die einen fast kartographischen Überblick gewähren, dem Betrachter aber auch einen größeren Abstand abverlangen. Sie wechseln mit solchen Photographien ab, die mit kontinuierlich verlaufendem Vordergrund einen direkten Eintritt ins Bild ermöglichen. Oft ist die Zentralperspektive gewählt, die räumliche Tiefe suggeriert und eine klare Gliederung der Ansicht von der Bildmitte aus ermöglicht und der Lesbarkeit der jeweiligen Aufnahmen entgegenkommt. Immer wieder stößt Dömer im urbanen Geschehen auf Reihungen, Wiederholungen, Muster und Strukturen, seien sie Zeugnisse eines umfassenden Gestaltungswillens oder der Notwendigkeit des Miteinanders vieler verschiedener Interessen geschuldet. Er beobachtet sie in Straßenfluchten, gesäumt von Hausfassaden des 19. Jahrhunderts, in großflächigen modernen Glas- und Stahlbauten eines Gewerbeparks, einer unbeholfen wirkenden Zweck- oder Schmuckarchitektur zwischen U-Bahnaufgang und Stadtbegrünung, in Zuggleisen und Hochspannungsmasten, den Hausblöcken und Parzellen eines Neubauviertels oder den angedeuteten Bahnen eines Regattasees. Selbst dort, wo noch vermeintliche Frei- und Resträume existieren, wie auf einem Gelände, das als Parkplatz genutzt wird, hat sich geradezu wie von selbst eine Ordnung gefunden. Kaum scheint es einen städtischen Ort zu geben, der nicht schnell einer Nutzung zugeführt, besetzt und in irgendeiner Weise – und sei es zum Ablagern von Unrat – parzelliert und absorbiert ist. Greift Frank Dömer in seinen Dokumentationen jene Stadtmotive auf, die ganz unwillkürlich von Funktions- und Ordnungsprinzipien gekennzeichnet sind, so findet er darin zugleich auch eine gegliederte und geschichtete Flächenverteilung für seine Bilder. Transferiert in einen verkleinerten Maßstab zeichnet sich ein Wirklichkeitsausschnitt ab, der zugleich ein neues Ganzes offeriert, ein Bild, das sich als individuell hervorgehobener Kosmos wiederum von seiner konkreten Vorlage zu lösen vermag und in dieser Weise verallgemeinert ein künstlerisches Objekt darstellt, das neue Wege der Betrachtung eröffnet.

 

Fraglos spielt für Frank Dömer – ob für seine Malerei oder Photographie – die Farbgebung seiner Bilder eine bedeutende Rolle. Je nach Medium aber fordert sie von ihm einen unterschiedlichen Zugang. Vermag er die Farbe während des Malvorgangs weitgehend selbst zu steuern, wird sie in der analogen photographischen Aufnahme zunächst vom Motiv vorgegeben und ist von den gegebenen Lichtverhältnissen abhängig. Allein die Bearbeitung des photographischen Abzugs lässt in Grenzen eine nachträgliche Interpretation und Beeinflussung zu. Entsprechend seiner Maxime, wirklichkeitsgetreue Aufnahmen zu liefern, orientiert sich Dömer jedoch am sichtbaren Gegenstand und intendiert die Wiedergabe einer natürlichen und unverfälschten Farbgebung. Seine Vorliebe gilt dabei solchen Momenten und Räumen, die von einer neutral grauen asphaltfarbenen oder erdigen Tonalität gekennzeichnet, aber kontrastierend durch leuchtend farbige Punkte etwa in hellem Gelb, Rot oder Blau belebt sind, meist in Form von Verkehrs- oder Reklameschildern, werblichen Anstrichen, Autos oder anderen funktionalen Konstruktionen. Ein Vergleich von Dömers Photographien mit seinen deutlich abstrakteren Malereien mag vor allem da von Bedeutung sein, wo es auf die angemessene Umsetzung verschiedener Konsistenzen und Materialitäten ankommt, die im städtischen Bereich auf Schritt und Tritt neu zusammentreffen. Entsprechend konzentriert erfasst Dömer auch in seinen Photographien die vielen Konstellationen mit ihren unterschiedlichen Qualitäten wie die Härte oder Brüchigkeit von Gestein und Beton, die Glätte und Kühle von Metall oder Glas, das Fließen von Wasser, die Transparenz des Lichts, das Flockige der Wolken oder das Verästelte von Bäumen und Büschen.

 

Die Bildreihe Köln – ein paar Jahre erweist sich als ein photographisches Skizzenbuch, in dem sich die Nähe und genaue Ortskenntnis des Künstlers ebenso wie seine Distanz zum beobachteten Sujet spiegelt. Absichtsvoll hält Frank Dömer mit seinen Photographien die Zeit an, verlängert den kurzen Moment der Gegenwart, gibt uns Gelegenheit hinzuschauen, eine eigene Einstellung zu finden, sich seiner Erfahrungen und Erinnerungen zu versichern, wie auch die uns umgebenden Dinge zu hinterfragen. Er beweist einmal mehr wie wundersam, dicht und inspirierend die vielfach unterschätzten, alltäglichen Aspekte der Wirklichkeit sein können und verweist mit seinen Aufnahmen auf Nebenwege und Zwischenräume. In einem breiten Spektrum führt er uns mit fein nuancierten Neutral- und Buntfarben durch ein urbanes Umfeld voller sprechender Details und Konturen, voll der Einsicht, dass alles mit allem zusammenhängt, einzigartig ist, ohne zwangsläufig aufeinander angewiesen zu sein, und unzählige Möglichkeiten assoziieren und antizipieren lässt.

Deuten sich in einigen seiner Photographien Randbezirke, weite Industrielandschaften wie auch Verkehrsnetze an, so erahnt man, dass sich weitere Ballungsgebiete anschließen und sich Vergleichbares beobachten ließe. Frank Dömer versteht Köln als ein Modell einer europäischen Großstadt mit einer wechselvollen Geschichte, in der unterschiedliche Stilepochen, politische, soziale und kulturelle Verhältnisse ebenso ablesbar werden wie Einflüsse durch global verbreitete Wirtschafts- und Medienstrukturen.

Umstände und Blickrichtungen ändern sich, ein weites Feld tut sich auf, das aufs Neue Aufmerksamkeit und Neugier weckt, Stück für Stück entdeckt werden will. Keine Frage: Fortsetzung folgt.

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